„Lockungen“

im Mahlersaal der Historischen Stadthalle Wuppertal

von Johannes Vesper

Marie Seidler - Foto © Johannes Vesper
„Lockungen“

im Mahlersaal der Historischen Stadthalle Wuppertal
 
Von Johannes Vesper
 
Singen ist wahrscheinlich die intimste Form des Musizierens. Wenn die Mutter dem Kind vorsingt, werden Emotionen angeboten. Das Lied als musikalische Gattung hat es heutzutage aber schwer. Im kommerziellen Pop singt man vor riesigem Publikum, verstärkt die Stimme mit Hilfe komplexer Elektronik. Der klassische Liederabend, unplugged, Auge in Auge mit kleinem Publikum in kleinem Saal scheint jedenfalls der Masse des Publikums nicht zu liegen. Es kamen nur wenige, als am 27.11.23 Marie Seidler, begleitet von Doriana Tchakarova am Flügel, ein feines und exquisites Programm mit Liedern von Franz Schubert, Hugo Wolf, Claude Debussy, Pauline Viardot und Manuel de Falla sang. Das Verhältnis zwischen Mann und Frau, auch andersherum ist von jeher schwierig und wurde schon immer besungen. Unvermittelt begann die Sängerin mit „Der Fischer“ (Goethe Schubert), der sein eigen Antlitz im stillen Meeresspiegel betrachtet, die Sorge der Nixe bezüglich der Fischlein hört, die durch Angeln (Überfischen) und Meerestemperatur („Todesglut“) gefährdet sind, dann verschwindet er am besten ganz und ward nicht mehr gesehen. Heutzutage würde diese romantische Tragik wohl im Rahmen der Klimadiskussion abgehandelt. In der rastlosen Liebe hatte Johann Wolfgang wirklich Erfahrung und seine Geliebten bedeuteten ihm „Glück ohne Ruh“. Franz Schubert, mit Geliebten viel seltener beschäftigt, saust trotzdem unbändig los. Die Sängerin gestaltete die unterschiedlichen Facetten des Gefühllebens von wonnigen Schmerzen bis zum Feuer im Herzen über schnell repetierten Triolen des Klaviers (wie später beim „Erlkönig) souverän mit beweglicher, in leisen Passagen und tieferen Registern ausdrucksvoller Stimme und beeindruckender Bühnenpräsenz. Große Augen, schelmischer Blick, bewegte Gesichtszüge, passende Gestik: zusätzlich zur gesanglichen Interpretation wurde hier mit jedem Sinne erfaßt, daß „Honig und Galle zugleich ist die Minne“. Leider war die Stimme oft einfach zu laut. Die Forcierung vor allem in hohen und höchsten Höhen könnte in einem größeren Saal oder gar in der Oper gegen ein Orchester notwendig sein, störte aber in dem kleinen Mahler-Saal. Und Die Pianistin paßte sich auf dem für dieses Konzertformat an sich besonders geeigneten Blüthner Flügel der Sängerin dynamisch auch noch an. Jedenfalls scheint bei solch ständigem Forcieren der Stimme die wiederholte Frage an den Geliebten im Schatten ihrer Locken „Weck ich ihn auf“ völlig überflüssig.
 
Bewegend gelang „Der Tod und das Mädchen“, und die Dramatik des „Erlkönig“ fesselte trotz ständigen FF. Bei den bezaubernden Liedern Claude Debussys kam in mittleren oder gar tiefen Registern die schöne Stimme ohne dynamische Belastung voll zur Geltung. Bei Debussy verlief die musikalische Entwicklung ja nicht Richtung Atonalität, sondern unter Verlust der Melodie bei oft übereinander greifenden Händen hin zu impressionistisch anmutenden flächigen Klangkaskaden und Sechzehntelketten, in welche sich die Stimme lockerer einfügt. Zuletzt wurde sogar das Niederschlagen der Augen auf dem Klavier angedeutet. Pauline Viardot, als Sängerin im 19. Jahrhundert europaweit bekannt zwischen St. Petersburg und London, vor allem aber in Baden-Baden, war als Komponistin weniger berühmt. Die nächtliche „Beschwörung“ der toten Leila (Gedicht von Puschkin) ist ein hochdramatisches Musikstück welches mit dem Zweifel an ewiger Treue in einem Verzweiflungsschrei endet. Zuletzt dann spanisch punktiert, Flamenco im Hintergrund, jedenfalls immer tänzerisch, wird die Liebe auf Spanisch abgehandelt. Hier wechselte Temperament mit Elegie, bürgerliche Vorschrift mit Tabubruch. Jedenfalls ist auch in Spanien die Liebe kein reines Glück. Am Ende gab es reichen Beifall und eine Zugabe.
 

v.l.: Doriana Tchakarova, Marie Seidler - Foto © Johannes Vesper

Liedertal Saison 2023/24. 1.Liederabend 27.11.2023 „Lockung“. Marie Seidler Mezzosopran, Doriana Tchakarova Klavier. Franz Schubert (1797-1828): Der Fischer, Rastlose Liebe, Sehnsucht,Gesang der Norna, Der Tod und das Mädchen. Atys. Erlkönig. Hugo Wolf: 1860-19103: aus „Spanisches Liederbuch“ Claude Debussy (1862-1918) Trois Chansons de Bilitis: La Flute de Pan, La Chevelure, Le Tombeau des naïades. Pauline Viardot-Garcia (1821-1910) Flüstern, atemscheues Lauschen, Mitternächtige Bilder, Des Nachts, Die Beschwörung. Manuel de Falla (1876-1946): Siete Canciones populares españolas